Mein Plädoyer an... die Erinnerungskultur!

...oder warum gerade wir nicht vergessen dürfen

Am 9. November wäre meine Oma 88 Jahre alt geworden. Eine vollschlanke Frau mit eisblauen Augen und hochtoupierten Haaren, die zeit meines Lebens etwas gebückt gegangen ist und so dreckig lachen konnte wie niemand anderes. Ihr Gesicht zierten kleine Falten, die ihre Geschichte erzählten. Es waren ganz viele, kleine Falten, wie Sprenkel. Dennoch war sie schon seit jeher eine schöne Frau, die trotz ihres Alters und ihrer Erlebnisse nie die Eleganz verloren hat.

Und meine Oma hat viel erlebt. Ganz allgemein hat sie 87 Jahre auf dieser Welt verbracht. In dieser Zeit ist jede Menge passiert. Speziell ihr Geburtstag macht ihre Geschichte aber noch spannender. Denn der 9. November ist einer der historischsten Tage Deutschlands.

Erinnerungen. Photo by Fancycrave.com from Pexels
Zugegeben, beim ersten herausragenden Ereignis war auch meine Oma nur ein Gedanke. Am 9. November 1918, hundert Jahre ist es her, rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die Deutsche Republik aus - der erste Schritt zur Demokratie.

Das letzte herausragende Ereignis hat meine Oma sehr wohl erlebt. Manchmal erzählt meine Familie heute noch von dem Tag. Am 9. November 1989 fiel die Mauer zwischen DDR und Bundesrepublik. Beide Staaten waren wieder vereint. Meine Oma hatte, wie üblich, zum Kaffee eingeladen, versammelte ihre Lieben an diesem Abend aber nicht um den Tisch, sondern um den Fernseher, weil alle sehen wollten, was in Berlin passierte.

9. November: Ein Tag mit dunklem Schleier

Wer sich jetzt fragt, ob ich zwischen diesen 71 Jahren nicht etwas vergessen habe, der sei gelobt. Denn genau darauf möchte ich hinaus. Dieser Tag könnte so schön sein, aber er ist es nicht, weil noch etwas passiert ist. Beim Höhepunkt der Novemberpogrome am 9. November 1938 zerstören Nationalsozialisten die Geschäfte und Gebäude jüdischer Mitbürger. Die offene Jagd auf Juden löste deren Diskriminierung ab.

Obwohl ich gerne an den 9. November denke, weil ich diesen Tag mit meiner Oma und den schönen Ereignissen verbinde, ist da immer dieser dunkle Schleier, der sich über das Positive legt. Und genau das ist gut so. Denn wenn ich mir anschaue, was der 9. November in breiten Schichten der Bevölkerung bedeutet, ist das nötig. Vielen Menschen scheint nicht mehr bewusst zu sein, was es mit den Pogromen auf sich hat. Mal ehrlich, vielen scheint gar nicht mehr bewusst zu sein, was die Nationalsozialisten widerliches getan haben. Leider - das stelle ich mit immer mehr Hilflosigkeit fest - betrifft das vor allem jüngere Menschen.

Beispiel gefällig? Eine US-Klasse posiert mit Hitlergruß auf ihrem Abschlussfoto. Auch in meiner Stufe machten manche Leute absolut abfällige Naziwitze, die jede Lehre aus dieser Zeit verharmlosten. Im Geschichtsunterricht hörte kaum jemand zu, weil: "Das hatten wir doch alles schon tausend Mal." Ja, aber scheinbar nicht genug. Der Grund für diese gewisse Ignoranz liegt nahe: Für uns sind die Naziverbrechen weit weg. Zumindest gerade weit genug. Und wir entfernen uns immer weiter.

Nehmen wir mal unsere Großeltern und ganz exemplarisch meine Oma: Sie ist 1930 geboren. Während der Novemberpogrome war sie acht Jahre alt und befand sich noch in Ostpreußen. Dort ist sie geboren. Erst als die Russen sich näherten, floh sie mit ihrer Familie - über Litauen nach Deutschland. Sie hat Elend erlebt. Ich weiß nicht, wie sehr und wie viel, weil sie nie darüber gesprochen hat, aber manchmal blitzte durch, dass ihr Schlimmes widerfahren ist und sie Schlimmstes gesehen hat. Mein Opa wiederum, zwei Jahre älter, erzählte regelmäßig davon. Es war vermutlich weniger grausam als die Erlebnisse meiner Oma, aber grausam genug, um es erst im hohen Alter zu verarbeiten. Die Panzergraben, die Sirenen, die Bomben, die Toten. 


Ausschwitz. pixabay.com

Dann kommt die Generation unserer Eltern. Sie wissen, wie es im Nachkriegsdeutschland aussah. Sie haben ihre Eltern erzählen hören, sie jeden Tag um sich gehabt und mit ihnen natürlich die Spuren des Kriegs gesehen. Für sie war das nah. Sie wussten, was es heißt, für Frieden zu demonstrieren und all das Kämpfen und Sterben für die Überzeugungen eines Staatsführers strikt abzulehnen. Sie haben auch den Kalten Krieg zu spüren bekommen, hatten selbst Angst.

Und dann wären wir schon bei uns, den Jungen. Für uns sind die Geschichten der alten Generation gleichzeitig nah - weil viele im Alter davon erzählt haben - und gleichzeitig sehr weit weg. Krieg ist für uns nahezu unvorstellbar. Mehr als Zeitzeugenberichte kennen wir nicht. Ehrlicherweise waren die uns sogar manchmal zu viel, weil wir wirklich in der Schule damit überspült wurden und unsere Großeltern manchmal die Dinge fünfmal erzählt haben. Aber was uns nervig vorkam, ist so wertvoll. Wir durften diese Geschichten noch hören. Und mit ihnen ein bisschen den Horror.

Dieses Glück ist der Generation nach uns schon nicht mehr vergönnt. Für sie sind die Nazis fremd, genauso wie der Krieg. Damit wären wir wieder bei den Eskapaden. Bei Hitlergrußfotos und bei dummen, abgefuckten Witzen. Wer keinen Bezug dazu hat, weiß den Ernst dieser Zeit nicht einzuschätzen. Und das endet im schlimmsten Fall damit, dass er selbst andere diskriminiert, der AfD beitritt oder Menschen jagt, wie es einige Idioten in Chemnitz getan haben. 

Wir brauchen eine Erinnerungskultur, mehr denn je

Damals wurden Millionen Menschen einfach getötet, weil sie einer bestimmten Religion angehört haben. Oder einer Partei. Oder aus einem anderen Land kamen. So unvorstellbar das klingen mag: Es hätte jeden treffen können. Katholiken, Protestanten, Dunkelhaarige, Korpulente. Weil die Geschichte einige Weichen gelegt hat, waren es am Ende vor allem Juden. Und jetzt werden wieder Ausländer diskriminiert. Es werden wieder Juden und dieses Mal auch Muslime angegriffen.

Wenn ich das sehe, wird mir schlecht. Wir brauchen eine Erinnerungskultur, mehr denn je. Wir sind jung, aber das ist keine Ausrede. Wir, ja, ich meine euch und mich, müssen Bescheid wissen. Wir müssen verstehen, dass der Holocaust das Schlimmste ist, was in Deutschland je passiert ist, und dass so etwas, nicht mal im kleinsten Ausmaß, jemals wieder passieren darf! Und als ein Zeichen dafür wäre es doch mal ein Anfang zu wissen, was für ein Tag der 9. November war, oder?

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Die besten Songs... gegen nervige Menschen!

Meine 5 Minuten gehen diese Woche an... den Feiertagsirrsinn!

Reisecheck! Die Costa Daurada...